
Geschichte des jüdischen Lebens in Zeitz
Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Zeitz ist eine Geschichte voller Brüche, Verluste, aber auch integrativer Momente. Sie reicht vom Mittelalter bis in das 20. Jahrhundert hinein und spiegelt sowohl regionale Besonderheiten als auch übergreifende gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland wider. Sie erzählt von Zeiten der Duldung, der Vertreibung, der rechtlichen Emanzipation und schließlich von der systematischen Vernichtung durch den Nationalsozialismus. Es ist eine Geschichte, die tief eingebettet ist in das gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Leben der Stadt und somit zugleich Stadtgeschichte wie auch ein Teil europäischer Geschichte.
Mittelalter und Frühe Neuzeit: Von Toleranz zu Vertreibung
Die ersten Erwähnungen jüdischer Einwohner in Zeitz lassen sich nicht exakt datieren, doch gibt es Hinweise darauf, dass bereits im Mittelalter einzelne jüdische Familien in Zeitz gelebt haben. Wie in vielen anderen Städten des Heiligen Römischen Reiches spielten sie im lokalen Wirtschaftsleben eine wichtige Rolle, etwa als Händler, Pfandverleiher oder Münzmeister. Die rechtliche Stellung war jedoch stets prekär. Jüdisches Leben war vom Schutz durch lokale oder landesherrliche Obrigkeiten abhängig und konnte jederzeit durch Pogrome, Steuererhöhungen oder Vertreibungen beendet werden.
Ein einschneidendes Ereignis war das Jahr 1494, als Bischof Johann II. von Schönburg ein Aufenthaltsverbot für Juden sowohl in Zeitz als auch im gesamten Bistum Naumburg-Zeitz verhängte. Dieses Verbot wurde nicht nur aus religiöser Intoleranz ausgesprochen, sondern war auch Ausdruck wirtschaftlicher Konkurrenz und sozialer Spannungen. Fortan galt ein formelles Niederlassungsverbot für Juden, das über 350 Jahre lang Bestand haben sollte. Die Stadt Zeitz zahlte jährlich eine Gebühr von 40 Rheinischen Gulden an den Bischof, um dieses Privileg der Judenfreiheit aufrechtzuerhalten.
Die Tatsache, dass die Stadt später einen Rechtsstreit mit dem preußischen Fiskus führte, um die Ablösesumme für das aufgehobene Verbot erstattet zu bekommen, zeigt, wie sehr dieses „Privileg“ Bestandteil des städtischen Selbstverständnisses geworden war.
19. Jahrhundert: Emanzipation und neue Anfänge
Mit der Eingliederung der Region in das Königreich Preußen nach dem Wiener Kongress 1815 änderten sich die politischen Rahmenbedingungen grundlegend. Die Einführung der preußischen Gewerbeordnung 1845 und das Judengesetz von 1847 bereiteten den Weg für eine neue Phase jüdischer Ansiedlung.
1847 ließ sich der Kaufmann Heymann Sobersky als erster Jude seit dem Mittelalter in Zeitz nieder. Vier Jahre später folgte Ignaz Byck, der ein Modewarengeschäft in der Judengasse eröffnete. Diese Ansiedlungen stießen auf administrative und gesellschaftliche Widerstände, markierten jedoch den Beginn einer neuen jüdischen Gemeinde in der Stadt.
Die wirtschaftliche Blüte der Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bot auch für jüdische Bürger neue Perspektiven. Sie engagierten sich im Handel, im Finanzwesen und zunehmend auch in akademischen Berufen. Die Emanzipation verlief jedoch nicht reibungslos. Trotz rechtlicher Gleichstellung blieben soziale Vorurteile und berufliche Ausgrenzungen bestehen. Besonders der Zugang zu Beamtenlaufbahnen oder öffentlichen Ehrenämtern war weiterhin erschwert.
Im Jahr 1885 wurde eine Synagoge eingeweiht. Sie diente als religiöses Zentrum und Versammlungsort. Die Gemeinde war klein, aber stabil. Um 1900 waren etwa 89 Bürger mosaischen Glaubens in Zeitz gemeldet. Ihre Kinder nahmen am religiösen Unterricht teil, auch wenn es keinen eigenen Friedhof gab. Die Bestattungen erfolgten meist in Leipzig oder Halle.
Früher Antisemitismus und gesellschaftlicher Wandel
Der zunehmende Antisemitismus am Ende des 19. Jahrhunderts machte auch vor Zeitz nicht halt. Besonders in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wurden antisemitische Stereotype wiederbelebt. Jüdische Bürger wurden zunehmend als Symbol des „raffenden Kapitals“ diffamiert, während das „schaffende“ Kapital in christlicher Hand verherrlicht wurde. Diese Stereotype fanden in den Gründungsjahren des Kaiserreiches, insbesondere nach der Börsenkrise von 1873, massenweise Verbreitung.
In der Presse, etwa in der populären „Gartenlaube“ oder im „Neuen Deutschland“, wurden judenfeindliche Inhalte verbreitet. In Zeitz traten Vertreter antisemitischer Parteien wie Adolf Stoecker oder Theodor Fritsch auf. In Versammlungen des „Deutschsozialen Vereins“ wurden die Juden offen als Gefahr für die deutsche Gesellschaft dargestellt.
Der Erste Weltkrieg und seine Folgen
Trotz aller gesellschaftlicher Ressentiments zogen jüdische Zeitzer in den Ersten Weltkrieg. Viele von ihnen dienten tapfer an der Front, einige fielen, andere kehrten mit Auszeichnungen wie dem Eisernen Kreuz zurück. Dennoch hielt sich das Vorurteil, Juden hätten sich vor dem Dienst gedrückt.
Der Krieg brachte enorme soziale und ökonomische Verwerfungen mit sich. Die Versorgungslage war katastrophal, die Heimatfront litt Hunger. Nach dem verlorenen Krieg stieg die Sehnsucht nach Sündenböcken. Die Dolchstoßlüge, wonach „vaterlandslose Elemente“ den Krieg verloren hätten, traf erneut vor allem die jüdischen Mitbürger.
In den Jahren nach dem Krieg engagierten sich jüdische Bürger weiterhin für die Stadt, viele versuchten, sich in das politische Leben der Weimarer Republik einzubringen. Doch die Radikalisierung der politischen Lager, gepaart mit wirtschaftlicher Unsicherheit, führte erneut zur Verfestigung antisemitischer Strömungen.
Zwischenkriegszeit und Nationalsozialismus
Die wirtschaftliche Not nach 1923, Hyperinflation, Arbeitslosigkeit und die Weltwirtschaftskrise 1929 boten der NSDAP einen idealen Nährboden. Auch in Zeitz fanden ihre Ideen Resonanz. Bereits 1925 wurde eine NSDAP-Ortsgruppe gegründet. Hetzschriften wie „Das Hakenkreuz“ wurden verbreitet. Jüdische Geschäfte wurden boykottiert, ihre Eigentümer bedroht.
Ab 1933 übernahm die nationalsozialistische Ideologie auch in Zeitz die öffentlichen Institutionen. Die Verfolgung der jüdischen Bürger begann systematisch. Berufsverbote, Enteignungen und zunehmender gesellschaftlicher Druck bestimmten den Alltag. Die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 markierte den Beginn der offenen Gewalt: Wohnungen wurden zerstört, Geschäfte geplündert, Menschen misshandelt oder verschleppt.
Viele Zeitzer Juden wurden zur Emigration gezwungen, andere deportiert. Die Überlebenschancen waren gering. Die jüdische Gemeinde von Zeitz hörte auf zu existieren. Die Synagoge wurde zerstört oder umgewidmet, die Spuren jüdischen Lebens wurden ausgelöscht.
Nach dem Holocaust: Schweigen, Erinnerung, Aufarbeitung
Nach 1945 war das jüdische Leben in Zeitz erloschen. Nur wenige kehrten zurück. Die DDR widmete sich der Aufarbeitung der Verbrechen nur oberflächlich. Erst in den 1990er und 2000er Jahren entstanden Initiativen zur Erinnerung. In der Innenstadt von Zeitz finden sich heute Hinweise auf die ehemalige Judengasse, auf Einzelpersonen, die deportiert wurden, und auf die Bedeutung jüdischer Bürger für das kulturelle Leben der Stadt.
Eine 2003 veröffentlichte Dokumentation des Vereins zur Förderung der ländlichen Region widmete sich umfassend der Geschichte der jüdischen Gemeinde. Sie wurde von zahlreichen Zeitzeugen, Historikern und Archivmaterialien gestützt und stellt bis heute die wichtigste Grundlage für die historische Aufarbeitung in Zeitz dar.
Quellen:
- Projektgruppe Bliesener, Poeck, Scheffler: „Dokumentation zur jüdischen Geschichte in Zeitz“, herausgegeben vom Verein zur Förderung der ländlichen Region Süd-Sachsen-Anhalt e.V., 2003.
- Zeitzer Kreisblatt (verschiedene Jahrgänge: 1848, 1851, 1885).
- „Zeitzer Neueste Nachrichten“, insbesondere Artikel vom 20. Februar 1937.
- Staatsarchiv Merseburg: Protokolle und Verwaltungsakten zur jüdischen Ansiedlung in Zeitz.
- Stadtarchiv Zeitz: Geburts-, Heirats- und Sterberegister mit Angaben zum mosaischen Glauben.
- Saale-Zeitung, Bericht zur Einweihung der Synagoge, 1885.
- Weiland, Annemarie: „Die aus der Ritterstraße“, Erinnerungen an den Neumarkt und jüdische Geschäfte.
- Franzos, Karl Emil: „Vom Ghetto zur modernen Gesellschaft“, Berlin, 1910.
- Bundesarchiv: Akten zur Judenpolitik in der Weimarer Republik.
- „Volksbote“ (Zeitzer Ausgabe), sozialdemokratische Zeitung, 1920er Jahre.